II

„Vergiss nicht zu kehren“, sagte Reythers Vater schwach. Ein Hustenanfall schüttelte seinen zerbrechlichen Körper. Er hielt beide Hände vor den Mund, doch Reyther konnte den Schleim sehen, der durch die Ritzen zwischen seinen dürren Fingern floss. „Gasthaus ... sauber ...“

„Das werde ich nicht, Vater. Iss deine Suppe“, sagte Reyther.

„Kann nicht … mag den Geschmack nicht ...“

„Bea hat sie heute Morgen nur für dich gemacht“, sagte Reyther mit mehr Geduld, als er verspürte. „Du brauchst deine Kraft. Iss alles auf.“

Er schloss die Tür fest und ging zurück in den Schankraum. Das Mittagessen war vor Stunden serviert worden, und an den Tischen waren nur drei Gäste übrig: die beiden müden Händler, die sich über die Preise des Weins aus Westmark unterhielten und der religiöse Kerl, der still durch ein dickes Buch blätterte. Reyther stellte sich hinter den Tresen. Seine Frau schärfte eines der Kochmesser.

„Würdest Du meinem Vater etwas Tee bringen?“, bat Reyther. „Es geht ihm heute nicht gut.“

„Kannst du etwas Honig für ihn erübrigen?“ fragte Bea mit mitleidigem Blick.

Reyther seufzte. Honig war in den letzten Monaten teuer geworden. Der Händler aus Tristram war spät dran. Reyther hoffte, dass er in der nächsten Woche zurückkehren würde, aber wenn nicht, würde der Vorrat bald zur Neige gehen.

„Ich denke nicht.“ Auf ihren missbilligenden Blick hin fügte er schnell hinzu: „Wenn wir nicht genug Honig haben, werden unsere Gäste unzufrieden und unser Ruf könnte darunter leiden. Mein Vater würde das nicht wollen.“ Beas Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Ich bin sicher, er würde dir selbst sagen, den Honig wegzulassen, wenn er die Lage kennen würde. Dieses Gasthaus bedeutet ihm alles. Es ist sein Vermächtnis.“ Reyther rang kurz mit sich, dann hob er kapitulierend die Hände. „Na gut. Gib ihm den Honig. Ein kleines bisschen.“

Ihr finsterer Blick verfinsterte sich daraufhin eher weiter, doch sie machte den Tee – mit einem großzügigen Klecks Honig – und verschwand die Treppe hinauf.

Reyther seufzte erneut. Obwohl er nachgegeben hatte, war er sicher, dass sie es später wieder ansprechen würde. Sie schien es zu genießen,  ihn sich ohne Grund schäbig fühlen zu lassen.

Die Tür des Gasthauses schwang auf. Schritte hallten durch den Schankraum. Reyther ließ seinen Blick einen Moment länger auf der Treppe verweilen, dann begann er mit seiner Willkommensansprache. „Willkommen im Oasengasthof, mein Herr. Womit kann ich dienen?“

„Mein Herr? Nun, wenigstens besser als ‚ meine Dame‘“, sagte eine amüsierte weibliche Stimme.

Reyther wandte sich um. Die neue Besucherin trug schwere Rüstung, dieselbe schwere Rüstung, die er vor acht oder vielleicht neun Jahren gesehen hatte. Helm, Brustplatte, Schild, Streitflegel, ein weißer Wappenrock, der mit einem Symbol der Zakarum bestickt war – sie war es. Sein Mund öffnete sich vor Verblüffung.

Der Kreuzritter? „Ich … bitte um Verzeihung, meine Dame“, sagte er ohne nachzudenken.

Sie kicherte gelassen. „‚Meine Dame.‘ Mein Name ist einfach Anajinn.“

„Verzeihung … Anajinn“, sagte Reyther. War das ihr Name gewesen? Sie sah anders aus, als er sie in Erinnerung hatte. Ihr Haar war heller und länger, ihr Kinn schärfer, ihre Nase etwas kleiner. Seltsamerweise schien sie auch jünger zu sein.

Er konnte die Blicke der anderen Gäste im Schankraum spüren. Es war ein wenig beruhigend zu wissen, dass er nicht der einzige war, der durch ihr Aussehen eingeschüchtert war. „Braucht Ihr ein Zimmer? Ist Euer Knappe bei Euch?“ Knappe. Sein Magen verkrampfte sich. Bilder eines umgedrehten Tisches und ein hartnäckiger Fleck tauchten in seinen Gedanken auf. Scham brodelte hoch, und schnell verbannte er die Erinnerung.

„Ich brauche nur ein Einzelzimmer. Ich habe noch keinen Knappen gefunden“, sagte sie. „Außerdem würde ich gern wieder Eure Bibliothek in Anspruch nehmen.“

Reyther führte sie aus dem Schankraum in Richtung der Bibliothek. „Natürlich. Wir haben die beste Bibliothek in ...“ Er verstummte und runzelte die Stirn. Noch keinen Knappen gefunden? Anajinn hatte bei ihrem letzten Besuch einen gehabt. Andererseits schien sich Reyther nicht richtig an die ganze Quälerei zu erinnern. Er verwarf den Gedanken. „Beste Bibliothek von Kehjistan. Außerhalb von Caldeum natürlich.“

Anajinn hielt mit seinem Tempo mit, wobei ihre Rüstung mit jedem Schritt laut klirrte. „Ich habe in dieser Wüste fast drei Dutzend Außenposten besucht, und ich glaube, Ihr und Euer Vater habt Recht“, sagte sie. „Ihr habt wirklich die größte Bibliothek, die ich je außerhalb einer Großstadt gesehen habe. Genauer gesagt habe ich in keiner Stadt wie dieser je etwas Vergleichbares gesehen.“

„Die Idee meines Vaters“, sagte Reyther. „Caldeums Rast ist nur klein, aber so gut wie jeder, der über die Südstraße aus oder nach Caldeum kommt, rastet hier. Die Oase, wisst Ihr? Die letzte Gelegenheit, Wasser zu bekommen, bevor man den schlimmen Teil der Wüste durchqueren muss. Mein Vater hat gemerkt, dass viele Akademiker und Gelehrte und religiöse Pilger ankamen, die nicht in der Taverne die Straße hinunter nächtigen wollten. Also hat er beschlossen, etwas Einladendes für sie zu schaffen. Vergeudete Zeit und Mühen, fügte Reyther nicht hinzu. Wein und Schnaps ließen sich weitaus leichter in bare Münze umwandeln als ruhige Studienzimmer für Bettelstudenten. „Er ließ die Händler wissen, dass er bereit war, alle Bücher zu kaufen, die sie hatten.“

„Euer Vater. Geht es ihm gut?“

„Er liegt im Sterben“, sagte Reyther.

Anajinn neigte mitleidig den Kopf. „Gibt es etwas, das ich tun kann, um zu helfen? Darf ich ihn sehen?“

„Er ist dieser Tage nicht bei klarem Verstand. Ich würde ihn nicht gern mit alten Erinnerungen aufregen wollen.“

Anajinn betrachtete ihn kurz. „Wie Ihr meint.“ Die Bibliothekstür lag vor ihnen. „Sind seit meinem letzten Besuch viele neue Bücher hinzugekommen?“

„Ich glaube schon“, sagte Reyther. Er selbst hatte keine von ihnen gelesen. Er hielt die Tür auf. „Da wären wir.“

„Danke“, sagte sie.

Als sie zurücktrat, streifte eine Strähne ihres Haars Reythers Hand. Eine blonde Strähne, wie er gewahr wurde. Im Bruchteil eines Momentes wurde ihm alles klar – die Herrin, das braune Haar, der Name.

„Ihr ... Ihr seid nicht Anajinn. Ihr seid der Knappe!“

Er bekam ein verschmitztes Lächeln als Antwort. „Jetzt nicht mehr“, sagte sie.

„Aber ... die Rüstung … Ihr sagtet, Euer Name sei Anajinn!“

„Das ist mein Name“, sagte die Frau.

Reythers Verwirrung wurde zu Wut. Er hatte den Eindruck, dass sie sich über ihn lustig machte. Schon wieder. „Das war der Name Eurer Herrin!“

„Und auch mein Name.“ Sie lächelte noch immer. „Ist das wirklich so seltsam?“

Ihr—!“ Reyther senkte die Stimme. „Ihr sprecht, als ob Ihr sie wärt“, zischte er. „Wolltet Ihr mich hereinlegen? Habt Ihr mich beim letzten Besuch nicht genug beschämt?“

„Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich bin ein Kreuzritter. Ich bin Anajinn“, sagte sie. „Wie meine Herrin. Und ihre Herrin vor ihr.“

„Ihr habt alle Anajinn geheißen?“

„Als ich den Schild meiner Herrin aufnahm, nahm ich auch ihre Aufgabe und ihren Namen an“, sagte sie.

„Ihren Schild aufnahm? Warum? Was ist passiert? Ist Eure Herrin ...“ Tot? Plötzlich wollte Reyther es nicht mehr wissen. Hastig wechselte er das Thema. „Sucht Ihr noch immer nach Büchern über Ureh?“

„Nein“, sagte sie. „Ich suche nach Informationen über die verlorenen Erinnerungen von Tal Rasha.“

„Ich … verstehe.“ Das tat Reyther nicht. „Dann lasse ich Euch mal allein“. Hastig verließ er die Bibliothek und kehrte in den Schankraum zurück.

Bea erwartete ihn. „Ein neuer Gast?“ Reyther nickte steif. „Wer war sie?“ fragte Bea.

„Sie war vor ein paar Jahren hier. Ich glaube, sie könnte verrückt sein“, flüsterte er. Bea bedachte ihn mit einem skeptischen Blick.

Reyther räumte die Teller der Händler weg und brachte dem einsamen Mann, der an einem anderen Tisch saß, einen frischen Krug Wasser. Sie ist verrückt, dachte Reyther während er das Glas des Mannes bis zum Rand füllte. Kein vernünftiger Mensch nimmt den Namen eines anderen an und versucht, sein Leben zu leben. Das ist nicht normal. Kaltblütig dachte er darüber nach, wie lange es dauern würde, nach dem Tod seines Vaters alle Bücher in der Bibliothek zu verkaufen. Es könnte zum Besten sein, wenn dieser Kreuzritter keinen Grund hätte, je zurückzukehren.

Eine strenge Stimme unterbrach seine Gedanken. „Gastwirt.“ Es war der Mann, dessen Glas er soeben gefüllt hatte. Der religiöse Kerl. „Wer ist diese Frau? Die in der Rüstung.“

„Ich bin ehrlich gesagt nicht sicher“, sagte Reyther. Das war die Wahrheit. „Sie ist eine seltsame Person.“

Energisch schloss der Mann sein Buch. Auf dem Einband war eines der bekannten Symbole des Glaubens der Zakarum. Es war dem, das der Kreuzritter trug, erstaunlich ähnlich. Bei genauerer Überlegung fiel Reyther ein, dass dieser Mann bei seiner Ankunft selbst Rüstung getragen hatte, die Anajinns nicht unähnlich gewesen war. „War sie schon einmal hier?“ fragte der Mann.

In seiner Stimme lag eine Schärfe, die Reyther nicht gefiel. „Einmal. Vor Jahren. Ich war noch ein Kind“, sagte er in der Hoffnung, geringschätzig zu klingen. „Sie erschien mir seltsam. Nicht besonders vernünftig, aber harmlos.“ Dann fragte er sich, ob er die Absicht des Mannes fehlgedeutet hatte. „Seid Ihr ... mit ihr befreundet?“

„Nein.“ Im Vergleich zu seiner Stimme wäre Eis warm erschienen. „Aber nicht besonders vernünftig. Interessant. Was ist mit Euch, Gastwirt? Haltet Ihr Euch selbst für vernünftig?“

„Ich denke schon“, sagte Reyther.

„Tatsächlich? Warum würde ein vernünftiger Mann einer Ketzerin Unterschlupf bieten?“

Reyther machte einen Schritt zurück. „Was?“

„Ich habe das Symbol auf ihrer Rüstung gesehen. Auf ihrem Wappenrock. Diese Zeichen sind nicht als zierendes Beiwerk gedacht.“ Der Mann stand auf, sodass Reyther zum ersten Mal seiner kräftigen Statur gewahr wurde. „Ich bin ein Paladin der Hand von Zakarum. Ich vernichte Verderbnis und Häresie, wo immer ich sie finde.“ Er stieß einen Finger auf Reythers Brust. Der Gastwirt fiel fast hintenüber. „Ich spüre das Licht nicht in ihr. Ich spüre etwas anderes. Sie darf nicht in Eurem Gasthaus verweilen, wenn Ihr dem Glauben dient. Tut Ihr das, Gastwirt?“

„Ja, ja, natürlich“, quietschte Reyther.

„Warum duldet Ihr also ihre Anwesenheit?“ sagte der Paladin.

Reyther zitterte unter dem hochragenden Mann. Er hatte noch nie einen so wütenden Paladin gesehen. „Ich begegne allen mit Höflichkeit, die den Segen des Lichts für sich beanspruchen. Wie hätte ich wissen sollen, was sie ist?“ Ein Gedanke kam ihm in den Sinn. „Sie hat sich selbst einen Kreuzritter genannt. Ich bin davon ausgegangen, dass sie zu Eurem Orden gehörte. Vergebt mir“, sagte er, wobei er auf die Knie sank und sich niederwarf. „Ich fürchte, dass mein Unwissen mich in tiefe Sünde gestürzt hat. Könnt Ihr mir vergeben, werter Herr?“ Er hielt den Atem an.

Eine lange, lange Pause entstand. „Ein Kreuzritter?“ Reyther erlaubte sich einen schnellen Blick nach oben. Der Paladin sah in nicht einmal an. „Dieser Name – warum ...“

„Ihr müsst es mir nur sagen, und ich werde sie sofort aus meinem Gasthaus entfernen lassen, werter Herr“, hauchte Reyther.

Der Paladin schien gedankenverloren. „Ja. Sagt ihr, sie soll mich vor der Tür treffen. Ich werde ihre Absichten selbst überprüfen. Und wenn nötig, werde ich mich um sie kümmern.“ Er schritt die Treppe hoch und nahm sein Buch mit.

Reyther stand unbeholfen auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das ist gut, sagte er sich. Anajinn könnte ihre eigenen Probleme mit dem Paladin lösen. Draußen. So weit vom Gasthaus entfernt wie nur möglich. Er konnte hören, wie der Paladin im oberen Stockwerk umherstampfte. Das klappernde Geräusch bedeutete, dass er Rüstung anlegte. Reyther erschauerte.

Aber er wollte nicht, dass Anajinn wusste, wie viel Angst er hatte. Sie hatte schon seine Demütigung durch etwas Wasser und Blut mitangesehen. Nein, beschloss er. Er würde ihr einfach sagen, dass sie gehen sollte. Der Rest war unwichtig. Dies war Reythers Gasthaus – oder das würde es sein, wenn sein Vater erst tot war – und er wollte, dass sie verschwand. Das war vernünftig.

Anajinn las ein dickes Buch, als er die Bibliothek betrat. „Anajinn, oder wie immer Ihr auch heißen mögt, Ihr müsst jetzt gehen.“ Sie sah zu ihm hoch und blätterte um, wobei sie beim Lesen mit ihrem behandschuhten Finger den Zeilen folgte.

„Ich habe da draußen ein paar wütende Worte gehört“, sagte sie.

„Da ist ein Mann ... ein Paladin. Er sagt, Ihr seid eine Ketzerin“, sagte Reyther.

Sie lachte. „Das wäre wohl typisch.“ Ihre Augen wandten sich nicht vom Buch ab. Reyther stammelte kurz unzusammenhängend. „Hat er angedroht, mich zu töten?“ fragte sie.

„Nun, nicht ... ja.“ Reyther versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen. „Ich glaube, er will Euch töten. Er wartet jetzt draußen auf Euch.“

„Wie nett von ihm, Euch zu schicken, um mich zu warnen.“

Sie las weiter, was Reyther sichtlich beunruhigte. „Wollt Ihr ihm nicht ... gegenübertreten?“

„Irgendwann. Wenn er noch da ist“, sagte sie. „Er könnte eine Weile warten müssen. Ich habe noch viel zu lesen. Vielleicht findet er etwas Besseres zu tun.“

Reyther fühlte sich vollkommen hilflos. Sie hinauszuzerren schien ihm eine schlechte Idee zu sein. Dennoch blieb er beharrlich. „Anajinn, ich will, dass Ihr mein Gasthaus verlasst. Jetzt.“ Sie antwortete nicht sofort, und Reyther explodierte. „Was ist los mit Euch? Was in diesem Buch könnte wichtiger sein als ein Mann, der Euch töten will? Warum bei den Höllen seid Ihr zurück in mein Gasthaus gekommen?“

Anajinn seufzte, legte ihr Buch ab und richtete sich auf. Ihre Rüstung klapperte leise. „Euer Vater bat meine Herrin …“

„Die echte Anajinn? Die erste?“ unterbrach Reyther, ohne nachzudenken.

Sie schien nicht beleidigt zu sein. „Ja, sie. Aber sie war nicht die erste. Anajinn nahm ihren Kreuzzug vor einigen Jahrhunderten auf“, sagte sie. Reyther reagierte darauf mit einem Blinzeln, aber sie fuhr fort. „Euer Vater fragte nach Details über unseren Kreuzzug. Das hat er Euch nicht gesagt?“ Reyther schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. „Dann fasse ich mich kurz. Ich bin auf der Suche nach etwas, das meine Religion retten wird.“

„Wo...vor?“

Anajinns Lächeln war traurig. „Verfall. Verderbnis.“

„Und warum hasst dieser Paladin Euch so sehr?“

„Wärt Ihr glücklich, wenn Euch jemand sagen würde, dass Euer Glaube im Kern fehlerhaft ist? Dazu verdammt, zu verderben und unbeschreibliches Leid und Schmerzen auszulösen?“ Sie seufzte. „Ich glaube nicht, dass dieser Paladin vor der Tür von besonders hohem Rang ist. Das Wissen über den Kreuzzug wird vor allen anderen bis auf die Anführer seines Ordens geheim gehalten. Wäre er einer von ihnen, würde er nicht so geduldig warten.“

„Was würde er tun?“

„Er würde Euren Gasthof dem Erdboden gleichmachen, um mich zu töten.“ Anajinns Gesichtszüge verhärteten sich. „Ich weiß nicht, ob ich ihn zur Vernunft bringen kann. Wenn nicht, werde ich vermutlich die Stadt verlassen müssen. Bis ich also zum Aufbruch bereit bin, werde ich zu Ende lesen.“

„Aber er hat damit gedroht, auch mich zu töten!“ So. Er hatte es gesagt.

Eine Pause. „Hat er das?“

„Nun, nicht direkt ...“

Anajinn unterbrach ihn. „Aber Ihr habt Euch bedroht gefühlt.“ Es war keine Frage. Anajinn schloss ihr Buch. „Dann werde ich sofort aufbrechen. Ich möchte nicht, dass Ihr Euch meinetwegen in Gefahr wähnt.“

„Aber dieses Buch“, sagte sie. Sie hielt es hoch. „Wärt Ihr bereit, es zu verkaufen? Ich kann einen guten Preis dafür zahlen.“

Reyther starrte sie an.

***

Amphi konnte fühlen, wie er mit jedem Herzschlag mehr Geduld verlor, wie Sandkörner, die durch ein Stundenglas rieselten. Der Wind durchpeitschte die Straße vor dem Gasthof und scheuerte Sand gegen seine Rüstung.

„Kreuzritter“, murmelte der Paladin. Er konnte sich nicht daran erinnern, wo er diesen Namen gehört hatte. Vielleicht hatte er davon gelesen? Ihn als Akolyth in Kurast gehört? Nein. Da war er sich sicher. Warum beunruhigte der Name ihn also so sehr? Kreuzritter waren keine Freunde von Amphis Orden. Soviel wusste er, aber selbst dieses Wissen fühlte sich unvollständig an. Die Symbole auf ihrer Rüstung waren sorgfältig und mit Ehrfurcht gestaltet worden. Keine offensichtliche Blasphemie. Sie war kein Narr, und sie war keiner der Schausteller, die sich Zakarum-Symbole auf den Körper malten und in billigen Kaschemmen umherzogen.

Cennis. Das war ein Name, an den Amphi viele Jahre lang nicht gedacht hatte. Der Junge war einer seiner besten Freunde in den Tempeln von Travincal gewesen und hatte einen unstillbaren Wissensdurst. Vielleicht war es das. Cennis hatte sich eines Nachts in das Studierzimmer eines der Ältesten der Hand von Zakarum geschlichen und ein Buch gestohlen. Aufgeregt hatte er Amphi von all den Dingen erzählt, die er erfahren hatte, Dinge, die man den Schülern nie beigebracht hatte. Er hatte sogar etwas Angst gehabt. Er hatte verborgenes Wissen gefunden, verlorene Verbrechen. Risse im Glauben. Seltsamerweise war Cennis kurz darauf verschwunden, und Amphi ...

Was war mit Cennis geschehen? Amphi wurde wütend. Ein vertrautes Gefühl. Wann immer er an seine Kindheit zurückdachte, überfluteten Hass und Zorn seinen Geist. Es war, als wären die Erinnerungen in einer verpesteten Jauchegrube vergraben, bedeckt von Widerwärtigkeit. Schon bald verblasste seine Neugier in einem Sturm des Jähzorns, und —

Der Kreuzritter. Amphi konnte fühlen, wie er mit jedem Herzschlag mehr die Geduld verlor, wie Sandkörner, die durch ein Stundenglas rieselten. Er drückte seine Hände gegen seinen Kopf und blinzelte. Woran hatte er gerade gedacht? Einen Freund aus Kindertagen? Das war es. Er verdrängte den Gedanken. Er musste sich auf wichtigere Angelegenheiten konzentrieren.

„Ihr wolltet mich sprechen?“ Die Stimme brachte Amphi in die Gegenwart zurück. Da war sie.

Amphi sah, wie Menschen die Straße entlang in ihre Häuser huschten. Durchreisende und Einwohner suchten gleichermaßen Schutz. Weise von ihnen, fand Amphi. Abrupt wurde er gewahr, dass die Frau ihn mit einem seltsamen Blick musterte, den Kopf zur Seite geneigt. „Geht es Euch gut, Paladin?“, fragte sie.

„Sagt mir Euren Namen“, sagte er barsch. „Sagt mir, wer Ihr seid, ob das Böse, das Euch antreibt —“

„Mein Name ist Anajinn. Ich bin ein Kreuzritter.“ Sie hob eine Braue. „Und ich hoffe, dass wir uns ruhig unterhalten können.“

„Ich verhandle nicht mit dem Bösen. Ich vernichte es, wo immer ich es finde“, schnappte Amphi.

„Gut“, sagte Anajinn fröhlich. „Dann haben wir ja etwas gemeinsam. Aber ich glaube, heute wird keine Vernichtung vonnöten sein. Was bedrückt Euch?“

Amphi zog mit einer schnellen Bewegung sein Schwert. Ihr Blick blieb unbeirrt, was ihn nur noch wütender machte. „Ihr seid eine Ketzerin, oder etwa nicht?“

„Das bin ich nicht“, sagte sie.

„Ihr behauptet, meinen Glauben zu teilen?“ brüllte er. „Ihr behauptet, Euch Zakarum verschrieben zu haben?“

„Nicht so, wie Ihr das meint“, sagte Anajinn. Sie hielt inne und betrachtete ihn mitleidig. „Wir haben viel gemeinsam, Paladin. Viel gemeinsam. Wir wollen beide dasselbe.“

Amphi spuckte auf den Boden. Warum fraßen sich die Worte dieser Frau in sein Innerstes? Er konnte sich kaum zurückhalten, sie hier und jetzt anzugreifen. Der Drang wurde immer stärker, und doch widerstand er und fuhr mit gepresster Stimme fort. „Diese Symbole, die Ihr tragt. Sie sind heilig. Ihr habt kein Recht, sie zu tragen.“

Der Kreuzritter schüttelte den Kopf. „Das ist nicht, was Euch bedrückt, nicht wahr? Sagt mir, was Ihr von mir wisst.“

„Ihr entweiht meine Religion“, sagte er.

„Wie das?“

Ich … weiß … nicht“, knurrte er.

„Hier ist, was ich weiß“, sagte Anajinn. „Ich weiß, dass das Böse überall gedeihen kann. Wirklich überall. Selbst unter denen, die Tugend und Gerechtigkeit für sich beanspruchen. Besonders dann, wenn sie sich nicht in Acht nehmen.“

„Seid still“, flüsterte Amphi. Seine Wut fiel von ihm ab.

„Ich weiß, dass der Weg, der Euch da hingeführt hat, wo Ihr jetzt seid, mit Reue gepflastert ist“, fuhr sie fort. „Ich weiß, dass Ihr die Rechtschaffenheit schätzt, und ich weiß, dass Ihr den Verdacht hegt, dass etwas innerhalb der Religion nicht stimmt. Ich weiß, dass Ihr Euch damit abgemüht habt, es zu verstehen, und was am wichtigsten ist: Ich weiß, dass Ihr stark seid, denn Ihr habt Euch dem Bösen noch nicht vollends hingegeben.“

„Bitte, hört auf zu reden“, flehte Amphi. Sie hatte Recht. Mit allem. Es gab unzählige Momente, in denen er die Taten seines Ordens infrage gestellt hatte. Seine Gedanken waren in Aufruhr.

„Ich weiß, dass Ihr die Herrlichkeit des Lichts gespürt habt, sonst hättet Ihr Eure Schwüre gebrochen“, sagte sie. „Und ich weiß, dass Ihr sie in den Feldern gespürt habt, in der Welt, unter ihren Menschen ... aber nie in Travincal. Nie in den Tempeln Eures Ordens. Und ich weiß, dass Ihr den Grund kennt. Tief in Eurem Herzen wisst Ihr es. Selbst, wenn man die Antworten vor Euch verborgen hat.“

Schmerz loderte zwischen seinen Augen. Still senkte er den Kopf. Ein Sturm wütete darin. Er versank tief in seine Raserei und suchte nach Wahrheit.

Was er sah, war ein Stein. Er war von Finsternis umgeben.

Etwas gab nach. Sein Aufruhr verflog in einem Augenblick.

Hass. Hass nahm seinen Platz ein. Reiner, nackter Hass.

Amphi zeigte mit dem Schwert auf den Kreuzritter und fühlte die Gewissheit seiner Bestimmung zum ersten Mal, seit er sie gesehen hatte. Er hob die Hände über den Kopf und beschwor die Macht des Lichts. „Genug der Worte, Ketzerin. Sterbt!“ brüllte er.

Anajinn nickte einfach. „So sei es.“ Sie lächelte traurig, während Amphi seine Macht auf sie niedergehen ließ.

***

Reyther konnte die Worte des Paladins nicht verstehen, aber die Art, wie sein Gesichtsausdruck sich verdunkelte, ließ keinen Raum für Zweifel. Der Sohn des Gastwirts lugte weiter durch das Vorderfenster des Gasthauses. Einen Augenblick später trat Bea an seine Seite.

„Geh zurück“, zischte er. „Hier ist es nicht sicher.“

„Du zuerst“, sagte sie. Reyther funkelte sie an, aber ein Lichtblitz zog seinen Blick wieder auf die Straße.

Bea atmete scharf ein. Reyther zuckte zusammen. Der Paladin hatte ... etwas ... beschworen, das wie die Mittagssonne leuchtete. Der Mann hielt es über seinen Kopf, brüllte Anajinn an und ließ es auf sie niedersausen.

Kurz bevor es sie traf, sah Reyther Anajinn lächeln.

Es gab ein ohrenbetäubendes Geräusch, und eine riesige, wogende Feuerwolke flammte dort auf, wo Anajinn noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte. Der Kreuzritter selbst war spurlos verschwunden.

Einen winzigen Augenblick lang.

Licht fuhr von oben herab, ein Blitz aus purer, strahlender Macht. Anajinn ging mit ihm nieder. Der Paladin hatte es nicht kommen sehen. Und dann sah er gar nichts mehr.

Reyther schrie vor Angst und stolperte rückwärts, wobei er seine Arme hochriss, um seine Augen vor dem gleißenden Licht zu schützen. Als er sie wieder sinken ließ, tanzte die scharfe, violette Form des Blitzes noch vor seinen Augen. Heftig blinzelnd kniff er die Augen zusammen. Anajinn stand allein da, ruhig, der Streitflegel baumelte langsam an ihrer Seite.

Von dem Paladin gab es Spuren. Viele von ihnen, über eine große Distanz verteilt. Der Sand, der Anajinn umgab, schien feucht zu sein.

Reyther fühlte, wie er zu zittern begann. Bea stand da und hatte die Hände vor ihrem Mund verschränkt. Reyther starrte benommen, als Anajinn sorgfältig den Schaft ihres Streitflegels in die Halterungsschlaufe ihrer Rüstung schob. Dann, mit einem letzten Blick in Richtung zum Gasthaus, ging sie in Richtung Westen, die Straße hinunter und aus Caldeums Rast hinaus, vom Sonnenuntergang geleitet.

Absolute Stille begleitete sie. Die Stadt sah ihr mit angehaltenem Atem hinterher.

Reyther hörte Geräusche von oben. Aus dem Zimmer seines Vaters. Reyther rannte zum Obergeschoss und öffnete die Tür. „Vater, geht es dir gut?“

Sein Vater war seit Monaten nicht so lebendig gewesen. Er starrte aus dem Fenster, und seine Augen folgten Anajinn, während sie in der Wüste verschwand. „Das ist sie, nicht wahr? Von vor Jahren! Ich wünschte, sie wäre auf einen Besuch hochgekommen. Ich wusste doch, dass sie was auf dem Kasten hat. Hat’s dem Bastard ordentlich gezeigt, was?“

„Vermutlich“, sagte Reyther.

Das Ende ihrer Reise

Kreuzritter

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