IV

Die Lichtschlinge – oder was auch immer es war – um seinen Hals lockerte sich nicht im Geringsten, als die Paladine ihn zum Anhalten zwangen. Reyther konnte hören, wie seine Haut unter der Hitze zu brutzeln begann. Seine Hände wanden sich aussichtslos hinter seinem Rücken, wo sie an den Handgelenken gefesselt waren.

Seine Augen ... seine Augen. Akarat, meine Augen! Dunkelheit überall. Der Paladin hatte einen Finger vor ihm gekrümmt, und Schmerzen waren durch seinen Schädel gefahren und hatten sein Augenlicht zerstört.

Reyther war blind. Vollkommen blind.

„Es ist gut, dass Ihr mit Euren Sünden so schnell zu uns gekommen seid“, flüsterte der Anführer der Paladine ihm ins Ohr. „Wir werden Euch ohne allzu viele Schmerzen zu Zakarums Gericht schicken. Wenigstens habt Ihr mir zusätzliche Übung verschafft. Eure Augen werden in Eurem Kopf bleiben.“ Eine Hand stieß Reyther auf die Knie. Er röchelte hilflos und konnte nur einen winzigen Lufthauch in seine Kehle ziehen.

Er konnte hören, wie die drei Paladine sich über die Straße verteilten. Reyther versuchte verzweifelt, ein letztes Flehen heraus zu röcheln – verschont meine Familie, nehmt den Kreuzritter, aber verschont meine Familie – doch alles, was sein Mund hervorbrachte, waren unzusammenhängende Krächzer. Er fiel auf die Seite. Er spitzte die Ohren und hoffte zu hören, wie sich irgendwo auf der Straße eine Tür oder ein Fenster öffnete. Nein, wurde ihm klar. Es würde keine Hilfe kommen. Von niemandem in dieser Stadt. Es wäre unvernünftig, sich in diesen Kampf einzumischen.

Der Anführer der Paladine rief mit lauter, starker Stimme: „Ketzerin!“ Einen Moment später versuchte er es erneut. „Ketzerin! Die den Namen Anajinn trägt! Ich bin Meister Cennis! Im Namen des Glaubens der Zakarum, den Ihr zu schänden beschlossen habt, liefert Euch sofort aus, auf dass Ihr gerichtet werdet.“

Schwere Schritte erklangen auf der hölzernen Terrasse des Gasthauses. Reyther sah nichts als Finsternis, doch er konnte sie deutlich hören. Sie trat ohne Zögern aus der Tür.

„Gastwirt, Ihr sollt wissen“, sagte Anajinn, „dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Eure Familie zu schützen.“ Ihre Stimme war von Mitleid und Trauer erfüllt, nicht von dem Zorn und der Anklage, die er erwartet hatte.

„Zeitverschwendung“, spuckte der Paladin. „Wer immer einem Ketzer Obdach gewährt – egal, wer – muss dasselbe Schicksal erleiden wie der Ketzer selbst“, fügte er mit feixendem Grinsen hinzu.

***

Die Straße auf und ab knallten Türen und Fenster zu. Davon abgesehen herrschte völlige Stille in Caldeums Rast. Der gesamte Ort hielt den Atem an.

Anajinn beäugte die drei Paladine. Der in der Mitte, der über Reyther stand, schien der Anführer zu sein. Die anderen zwei standen in Bereitschaft, doch sie konnte das Zögern in ihren Augen sehen. Sie waren es, die sie ansprach.

„Euer Anführer spricht davon, einen Gastwirt zu ermorden, seine Frau und ein junges Mädchen. Und seine Frau ist schwanger“, sagte sie. Verachtung troff aus jedem Wort. „Meister Cennis würde sie ohne einen Moment der Reue töten. Seid Ihr wirklich so tief gesunken? Seid Ihr wirklich auf seinen Abgrund des Bösen hinabgestiegen?“

Das löste einen weiteren Ausbruch bei Cennis aus – wütende Worte über Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit und Häresie, doch sie hörte nicht zu. Sie beobachtete die anderen beiden. Sie warfen einander verstohlene Blicke zu.

Unentschlossenheit.

Schuld.

Sie wussten, wer Cennis war. Sie wussten, zu was für einem Ungeheuer er geworden war. Sie hatten es einander oder sich selbst sicherlich nie eingestanden, aber sie wussten es. Sie wussten, tief in ihren Knochen, dass das, was gleich geschehen sollte, falsch war.

Doch während sie sie beobachtete, sah sie, wie das Gesicht des einen sich verhärtete. Der zweite tat es ihm kurz darauf gleich. In ihren Augen blieb nur Hass. Anajinn senkte den Kopf. Sie mochten die Idee nicht, sie fanden sie nicht reizvoll, doch sie würden gehorchen. Sie würden ihre Taten bedauern, vielleicht wäre dies sogar der Moment, der eines Tages zu ihrer Erlösung führen könnte. Doch der Preis dieser Erlösung würden die Leben Unschuldiger sein.

Der Paladin keifte weiter. Anajinn atmete sehr, sehr tief ein und ließ zu, dass die Luft und das Licht sie vollständig erfüllten. Ihre Müdigkeit wurde dadurch nicht vertrieben. Erschöpfung schien jeden Zoll ihres Körpers zu zeichnen.

Doch das Licht gab ihr Kraft. Wie es das immer tat. Wie es das immer tun würde, bis sie das Ende ihrer Reise erreicht hatte.

„So sei es“, sagte sie und stürmte voran.

Und das Licht umwirbelte sie.

***

Ein entsetzlicher und wunderbarer Ton erklang. Bea zuckte zusammen. Lilsa hörte stumm zu, den Mund vor Furcht weit geöffnet. Neue Geräusche erschallten, der Klang überirdischer Raserei. Des Kampfes.

„Reyther, oh nein, Reyther“, hauchte Bea.

Der Knappe führte sie hinter die Gebäude, die die einzige Straße des Ortes säumten, um sie von dem Kampf hinwegzuführen. Sie hielt ihr Kurzschwert in der rechten Hand, die Spitze nach oben ragend. Die linke Hand hielt Beas fest umschlossen. „Nicht stehenbleiben“, flüsterte sie. Andere Bewohner der Stadt flüchteten in die Wüste, allein, zu zweit und in kleinen Gruppen. Sie sahen aus, als würden sie es lieber auf die verdorrte Wildnis ankommen lassen, als auch nur eine Sekunde länger zu bleiben.

„Mein Mann, ist er ...?“

Sie schüttelte den Kopf. „Anajinn wird nicht zulassen, dass er stirbt, solange sie am Leben ist.“ Ein weiteres tiefes, hallendes Geräusch wogte über die Gebäude. „Und noch ist sie am Leben.“

Ein ungeheurer Knall unterbrach jede weitere Unterhaltung. Etwas – jemand – durchbrach die Hinterwand des Gasthauses und rollte durch den Sand. Beas Atem stockte in ihrer Kehle. Jemand war durch das gesamte Gasthaus geschleudert worden. Teile des Daches begannen einzustürzen. Es sah aus, als würde das Gebäude ihnen bald nachfolgen. Die Gestalt, die in der Wüste schlitternd zum Halten kam, war nicht Reyther, doch wer —

„In die Gasse“, sagte der Knappe. „Ganz leise.“

Bea ließ sich in die enge Gasse zwischen zwei Lehmwänden drängen. „Wer war das? Und ist er tot?“

Der Knappe riskierte einen Blick zurück um die Ecke. „Das war einer der Paladine und nein, ist er nicht.“ Widerstrebend fügte sie hinzu: „Er geht an der Seite entlang. Versucht sich um den Kampf zu schleichen, um Anajinn von hinten zu erwischen.“ Sie schaute auf ihr Schwert hinab, dann zu Bea.

„Müsst Ihr ihr nicht helfen?“, fragte Bea.

Der Knappe zögerte. „Sie hat mir aufgetragen, Euch nicht allein zu lassen.“

„Wir werden uns schon von Schaden fernhalten“, sagte Bea. Der Knappe rührte sich dennoch nicht. „Werden diese Männer davor halt machen, Eure Herrin zu töten? Meinen Mann zu töten?“

„Nein“, sagte der Knappe sanft.

„Dann geht“, sagte Bea.

***

Anajinn hob ihren Schild und ließ den Hammer davon abprallen. Die Erschütterung durchschüttelte sie bis auf die Knochen. Sie riskierte einen schnellen Blick durch das Loch im Gasthaus. Der Paladin, den sie weggeschleudert hatte, machte Anstalten, auf die Beine zu kommen. Nicht tot. Sie war erschöpfter, als sie geglaubt hatte. Der Schlag hätte ihn endgültig niederstecken sollen.

Die anderen beiden Paladine rückten unerbittlich vor. Der Anführer der Paladine, den sie Cennis nannten, schleuderte wieder und wieder Hämmer des Lichts gegen sie, während der andere einen unaufhörlichen Strom glänzender, gleißender Blitze auf sie zufliegen ließ. Sie hielt ihren Schild erhoben und fing jeden Angriff ab. Als der zweite Paladin auf drei Schritte Abstand vorgestürmt war, senkte sie die Schulter gegen den Schild gestützt, und stemmte sich gegen den Schild.

Eine massive Wand der Macht, des Lichts, prallte auf den anstürmenden Paladin. Roter Nebel breitete sich aus. Als das Licht verblasste, war die Luft rötlich verfärbt. Knochen, nur Knochen, knackten und brachen und fielen staubtrocken zu Boden. Selbst die Kleidung des Mannes war zu Staub geworden.

Anajinn frohlockte nicht über seinen Tod. Sie wandte sich einfach Cennis zu und schwang ihren Streitflegel. Mit einem überraschten, wutentbrannten Schrei sprang er zurück und schleuderte einen weiteren Hammer, der sie an der rechten Schulter traf. Quälender Schmerz brach hervor, doch sie ignorierte ihn kaltblütig.

Der Paladin zischte und kniff beim Anblick der Überreste seines Bruders die Augen zusammen. „Du dreckige, dich einmischende Mörderin. Gezücht des Bösen.“

„Es wäre für alle angenehmer, wenn Ihr aufhören würdet, zu reden“, sagte Anajinn.

Plötzlich ging sie in die Hocke und stemmte sich erneut gegen ihren Schild, doch der Paladin reagierte schneller, als sein Bruder es getan hatte. Er hob die Arme und erwiderte ihren Schlag mit einem eigenen. Sein Gegenangriff ließ ihren Schild erbeben, doch sie bewegte sich bereits vorwärts und ließ ihren Streitflegel über ihrem Kopf kreisen. Er rief einen weiteren Hammer herbei, um ihre Waffe zu treffen, doch der Kreuzritter stürmte mit dem Schild voran. Sie fokussierte das Licht vor sich, als sie durch seinen Angriff stürmte, ihn überrannte und in den Sand stürzen ließ. Dann schwang sie ihren Streitflegel, und reine, gleißende Macht sprang wie ein Blitz aus ihm hervor.

Der Paladin knurrte und hob die Hände, fing den Blitz ab. Und schleuderte ihn auf sie zurück.

Sie machte sich nicht einmal die Mühe, auszuweichen. Sie ließ das Licht über ihren Kopf und ihre Rüstung tanzen, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Teufel.“ Der Paladin fluchte. „Dämonin. Verdammte.“

„Das Licht tut den Rechtschaffenen kein Leid an“, sagte Anajinn, und ein kaltes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Könnt Ihr dasselbe von der Macht behaupten, die Ihr einsetzt?“

Wutentbrannt kam er wieder auf die Beine und warf sich ihr entgegen. Ihr Streitflegel und sein Hammer trafen aufeinander. Die Erschütterung des Aufpralls ließ Glasfenster entlang der Hauptstraße der Stadt bersten. Anajinn trat vor, ignorierte ihre zunehmende Erschöpfung und —

Schmerzen

— sie lag im Staub, mit dem Gesicht nach unten. Keuchend. Ihr Schild war ihrem Griff entglitten. Sie rollte sich auf den Rücken, schwang ihre Waffe und fühlte den zweiten Schlag, bevor sie ihn sehen konnte. Das stachelbewehrte Gewicht ihres Streitflegels landete genau auf Cennis‘ rechtem Bein, in der Lücke zwischen seinen Beinplatten. Sein Hammer verschwand nur einige Fingerbreit über ihrem Kopf, und er stolperte zurück, blutend und schreiend.

Wer hatte sie überrumpelt? Und womit? Sie versuchte, sich auf die Beine zu stemmen, aber ihre Arme und Beine zitterten und gaben nach, sodass sie wieder in den Sand fiel. Das ist schlecht, dachte sie. Brandspuren zogen sich ihre linke Seite hoch, und jeder Atemzug kratze in ihrer Kehle. Brannte innen. Brannte von innen. Sie hätte schwören können, dass sie fühlte, wie ihre Innereien verkohlten.

Nun, dachte sie. Das ist mal was Neues.

Zähneknirschend bemühte sie sich, aufrecht zu stehen, ignorierte den Schmerz, die Erschöpfung, die Schwäche. „Du hast dieses Leben gewählt“, erinnerte sie sich laut. Ihre Stimme klang guttural in ihren eigenen Ohren. „Mache es dir zu Eigen. Verfluche es. Aber bereue es niemals.“ Ihre Herrin hatte ihr das gesagt, vor langer Zeit. Bleib in Bewegung. Sie stemmte ihren Schild wieder hoch und blinzelte die Straße hinunter.

Helle Lichter trafen in etwa einhundert Schritten Entfernung aufeinander und versprühten gleißende Funken. Der verletzte Paladin, Cennis, gestikulierte wild. Der andere überlebende Paladin, den Anajinn durch das Gebäude geschleudert hatte, war dort. Er hat mich also überrumpelt. Jetzt schleuderte er seine Kraft jemand anderem entgegen, jemandem, der keine Rüstung hatte und ein Schwert führte ...

„Oh, du närrisches Mädchen“, murmelte Anajinn. Ihr Knappe neigte dazu, sich Befehlen zu widersetzen. Genau wie ich, dachte sie mit ironischem Lächeln. Aber das Mädchen war nicht dumm. Unerfahren, aber nicht dumm. Hätte sie sich nicht in den Kampf begeben, wäre Anajinn vermutlich gestorben. Der zweite Paladin hätte ihr den Rest gegeben.

Anajinn sah den Gastwirt, der hilflos auf dem Boden lag, von der Macht des Paladins gefesselt und der violetten Färbung seines Gesichts nach zu urteilen nahe am Erstickungstod. Sie ging in die Knie und bannte die Fesseln mit einer beiläufigen Geste.

Tiefe, heisere Keucher brachen aus Reythers Kehle hervor, und er öffnete die Augen.

Anajinn zuckte zusammen. Seine Augen waren vollständig weiß. Erblindet. Rauch stieg in weiter Entfernung die Straße hinunter auf – die Schmiede, vermutete sie kopfschüttelnd. Sie konnte sich nur ausmalen, was Cennis dort angerichtet hatte. Das war ein Problem, das warten musste.

„Euch geht es gut“, sagte Anajinn zu Reyther. Ich wünschte, das könnte ich auch von mir behaupten. „Steht auf, wenn Ihr könnt. Ihr müsst von der Straße weg.“ Sie schaute auf. Ihr Knappe setzte sich noch immer erfolgreich zur Wehr. Cennis war verletzt, und der andere Paladin war vermutlich durch seinen Abstecher durch ein Gebäude hindurch angeschlagen. Beide kämpften unstet. Ihr Knappe tanzte geradezu Ringe um sie herum.

Ein Lächeln zuckte über Anajinns Lippen. „Beeilt Euch bitte.“ Der Gastwirt versuchte zu sprechen, doch die Worte kamen als verängstigtes Schnaufen. Es tut mir leid, versuchte er zu sagen. Anajinn klopfte ihm auf die Schulter. Sie konnte das schlechte Gewissen sehen, das ihm ins Gesicht geschrieben war, selbst in seine leeren Augen. „Sie werden keine Gnade zeigen, wenn sie Euch finden. Versteckt Euch gut“, sagte sie. Endlich schaffte er es, sich in einen schlurfenden, schwankenden Laufschritt zu zwingen, seine Hände vor sich ausgestreckt.

„Versteckt Euch gut“, flüsterte Anajinn. Sie hatte ihm nicht gesagt, er solle die Stadt verlassen. Sie wusste so gut wie jeder andere, dass die meisten Menschen bei klarem Verstand es nicht wagen würden, ohne eine gut ausgestattete Karawane die Wüste von Kehjistan zu durchqueren. Ein blinder Mann, ein darüber hinaus gerade erblindeter Mann, wäre chancenlos.

Um Reyther und den Rest der Stadt in Sicherheit zu bringen, mussten die Paladine sterben.

Sie konnte sehen, wie Cennis humpelte, als er sich dem Knappen näherte. Das Mädchen huschte in die Reichweite des Paladins und wieder hinaus. Sie trug keine Rüstung und nutzte ihre Wendigkeit zu ihrem Vorteil. Sie brachte dem zweiten Paladin eine kleine Wunde am Arm bei, während sie eine Wand der Macht aufzog, um seinen Angriff aufzuhalten.

Anajinn stolperte ins Getümmel, grimmig lächelnd. Was für eine Herrin wäre sie, wenn sie ihrem Knappen den ganzen Spaß überließe?

***

„Hier entlang, Lilsa“, sagte Bea. Es fiel ihr schwer, ihre Stimme ruhig zu halten, aber es gelang ihr. Sie drückten sich an der Wand des Handelspostens entlang, der Straße entgegen. „Nur noch ein kleines Stückchen.“

Lilsa klammerte sich an ihre Hand und sah verängstigt aus, aber sie weinte weder noch schrie sie. „Wird der Kreuzritter die bösen Männer schlagen?“

„Absolut“, sagte sie mit mehr Bestimmtheit als sie selbst verspürte. „Gehen wir deinen Vater finden.“ Sie hatte gesehen, wie Reyther in Richtung der anderen Straßenseite stolperte. Angst kochte in ihrer Magengrube hoch; er hatte schwer verletzt und verwirrt ausgesehen.

Ein donnerndes Tosen übertönte alles – ein langes, ausgedehntes Krachen, erfüllt vom Geräusch berstender Holzleisten und brechender Mauern. Bea erstarrte, bis der Lärm sich gelegt hatte und nur das Kampfgetöse die Luft erfüllte.

Sie lugte um die Ecke und ihr Atem stockte.

Der Oasengasthof, ihr Zuhause, ebenso wie die neue Apotheke nebenan waren vollkommen zerstört. Ein heftiger Einschlag hatte beide Gebäude von ihren Fundamenten gerissen. Bea flüsterte ein Gebet. Sie glaubte, den Doktor und seine Frau vorhin bei der Flucht aus der Apotheke gesehen zu haben. Das hoffte sie.

Auf der anderen Straßenseite, durch eine Gasse hindurch, sah Bea jemanden herumtorkeln und nach den Mauern tasten. Reyther. Um ihn zu erreichen, würden Bea und Lilsa die Straße überqueren müssen, für die Kämpfenden leicht zu sehen.

Sie werden ganz Caldeums Rast in Schutt und Asche legen, wenn es noch länger so weiter geht, sagte sich Bea. Hinter einem Gebäude Schutz zu suchen schien zwecklos zu sein, wenn man die Kräfte bedachte, mit denen sie um sich warfen. Hinüberzugehen war vermutlich nicht viel gefährlicher, als stehen zu bleiben.

Sie atmete tief ein und hob Lisa auf ihre Arme. „Bereit, zu deinem Vater zu gehen?“, fragte sie. Lilsa nickte.

„Dann los“, sagte sie und rannte auf die Straße.

***

Knurrend schleuderte Cennis weiter Hammer um Hammer auf die beiden Ketzerinnen. Wieder und wieder fing die gerüstete seine Schläge ab, und die jüngere tänzelte aus dem Weg.

Plötzlich trat das Mädchen vor und holte zu einem Hieb aus. Ihr Schwert prallte von der Plattenrüstung an seinem Unterarm ab. Es war reines Glück, dass sie ihm nicht den Arm an seinem ungeschützten Ellbogen abgetrennt hatte. Er ließ sie wieder aus seiner Reichweite springen und formte einen weiteren Hammer. Dieses Mal hinter ihr.

Der Knappe wirbelte herum. Sie hob ihre Hände, um den Angriff abzuwehren, aber Cennis brach ihn ab und schleuderte einen weiteren Hammer direkt aus seiner Brust. Sie drehte ihr Schwert, und der Hammer prallte gegen Stahl statt Fleisch – dennoch schleuderte der Aufprall sie einige Dutzend Schritte zurück. Mit einem Lächeln wandte Cennis seine gesamte Aufmerksamkeit dem Kreuzritter zu. Anajinn. Sie kämpfte noch immer verbissen und starrte beide Paladine mit kalter Entschlossenheit an, doch die Kraft hinter den Schlägen wurde schwächer. Das sollte sie auch, so wie alle Feinde der Hand von Zakarum schwächer wurden, wenn sie sich der Rechtschaffenheit stellen mussten. Sie schlug mit ihrem Streitflegel – ein-, zwei-, dreimal – und verfehlte um mehrere Schritte.

„Zeit, zu sterben“, sagte er.

„Wie Ihr meint“, antwortete sie. Und plötzlich waren da zwei Kreuzritter ... drei ... vier ... sie stürmten vor ...

Mit einem Schrei schlug Cennis ungestüm um sich, während zwei neblige, durchscheinende Gestalten auf ihn zu schritten, jede von ihnen mit einem Streitflegel, der durch die Luft pfiff. Seine Angriffe trafen beide, und sie verflogen wie Rauch in einer Brise.

Der andere Paladin war nicht so schnell. Zwei weitere Anajinns schwangen ihre Streitflegel, und Stücke des Mannes flogen in entgegengesetzte Richtungen. Der Nebel verflog, und nur eine Anajinn war übrig. Sie lehnte sich erschöpft auf ihren Schild, bedachte Cennis jedoch mit einem kleinen, wilden Grinsen.

„Sagt mir, Paladin“, sprach sie. „Mussten Eure Ältesten Euch in die Umklammerung des Bösen schleifen oder seid Ihr freiwillig gegangen?“

Cennis starrte sie mit irren Augen an. Der Knappe kehrte in den Kampf zurück – langsam und unter Schmerzen, aber unaufhaltsam. Einige Momente lang stand er nur da. Dann wandte er sich um und floh, humpelnd und blutend.

Er hörte Anajinn aufstöhnen. „Zwingt mich nicht, Euch hinterherzulaufen“, rief sie. Er fletschte die Zähne. Zorn und Angst kämpften in seinem Geist. Muss fliehen. Muss sie töten. Muss ... muss ...

Die Straße hinunter lief eine Gestalt in eine Gasse. Cennis folgte ihr.

***

Anajinn ließ ihren Knappen aufholen. „Das hätte schlechter laufen können“, bemerkte der Kreuzritter mit einem gequälten Lächeln.

Ihr Knappe war außer Atem. „Der Paladin ... Frau des Gastwirts ....“

Anajinns Lächeln verflog. „Wo?“ Der Knappe zeigte auf eine Gasse vor ihnen. Cennis verschwand darin.

Irgendwie fanden sie die Kraft, ihm nachzulaufen.

***

„Reyther“, sagte Bea, ihre Hände auf seine Wangen gelegt. „Was haben sie dir angetan?“

Seine weißen Augen rollten in seinem Kopf. „Ich kann nicht sehen“, sagte er. Seine Stimme war angestrengt. Er umklammerte ihre Handgelenke, als hätte er panische Angst davor, dass sie losließe. „Er hat ... Ich kann nicht sehen. Bist du verletzt? Lilsa? Ist sie hier?“

„Ich bin hier“, sagte Lilsa. Die Augen des Kindes waren geweitet und glänzten vor Tränen.

Reyther ging in die Hocke, sah nicht ganz in die richtige Richtung und tastete blind umher. „Lilsa?“ Endlich fanden seine Hände sie, und er zog sie an sich. Er schaukelte vor und zurück, die Augen nach oben gewandt, als wolle er Beas Blick erwidern. „Es tut mir leid“, krächzte er. „Es tut mir so leid.“

„Das ist jetzt egal“, sagte Bea so entschlossen, wie sie konnte. „Ich glaube ...“ Einen Moment lang horchte sie. Die Geräusche des Kampfes waren verklungen. „Ich glaube, der Kampf ist vorbei.“

„Wer hat gewonnen?“, flüsterte Reyther.

Bea öffnete den Mund, um Ich weiß es nicht zu sagen, doch eine andere Stimme schnitt ihr das Wort ab. „Die Hand von Zakarum gewinnt immer, Abschaum.“

Lilsa schrie.

***

Der Schrei war eindeutig. Ein Kind. „Geh außen herum“, sagte Anajinn sanft.

Ihr Knappe schüttelte den Kopf. „Ich weiche dir nicht von der Seite.“

„Und das war keine Bitte. Geh außen herum.“ Die Stimme des Kreuzritters war nicht mehr sanft. Zögerlich nickte der Knappe und humpelte um das Gebäude herum – allem Anschein nach war es die Werkstatt eines Fassbinders.

Anajinn hoffte, dass der Gastwirt und seine Familie bereits geflohen waren. Aber sie verließ sich nie auf Hoffnungen. „Paladin!“ rief Anajinn. „Habt Ihr wirklich vor, Unschuldige in unseren Kampf zu verwickeln?“

Ein Schatten erschien am Rand der Gasse. „In dieser Stadt gibt es keine Unschuldigen“, sagte eine wutentbrannte Stimme. „Nicht, wenn sie deinesgleichen Unterschlupf bietet.“

Anajinn spannte das Kinn an und erhob ihren Schild. Sie vermutete, dass es sinnlos sein würde, an seine Gnade zu appellieren. Seinen Stolz anzustacheln dagegen ...

„Verbergt Ihr Euch also in der Dunkelheit?“ Sie musste ihn hervorlocken, um ihrem Knappen die Möglichkeit zu geben, ihn zu flankieren. „Ist das die Art und Weise, auf die Diener des Glaubens kämpfen?“

Mit einem wilden Knurren trat er vor. Anajinn fühlte ihr Herz sinken. Sein linker Arm war um Beas Kehle geschlungen. Seine rechte Faust hielt er kurz vor ihrem Ohr. Noch schlimmer: Bea hielt Lilsa im Arm. Das Mädchen klammerte sich um den Körper ihrer Mutter und starrte den Mann an, der sie beide als Geisel hielt.

Funken stoben von der rechten Faust des Paladins. Bea zuckte nicht mit der Wimper, selbst als die Funken ihre Haut trafen. Gut, dachte Anajinn. Zeigt ihm nichts. Zeigt Eurer Tochter nichts.

„Wie stolz wären Eure Ältesten, wenn sie Euch jetzt sehen könnten?“ fragte Anajinn. „Wie stolz wäre die Gemeinde in den Tempeln von Travincal, wenn sie sehen würden, wie ein Champion ihres Glaubens sich hinter einer Schwangeren und einem Kind versteckt?“

Cennis lachte; es klang verzweifelt. „Es gibt keine Gemeinde. Nicht mehr. Travincal ... ich glaube, ich habe auch keine Ältesten mehr. Aber ich werde die Aufgabe ausführen, die sie mir zugewiesen haben.“

„Und was wäre diese Aufgabe?“

„Ketzer. Es gibt immer so viele Ketzer. Ich weiß, was du bist.“ Sein halb verrücktes Gelächter hallte durch die Straße. „Das wissen nur wenige in meinem Orden. Aber ich weiß es. Du glaubst, wir wären verderbt. Verdammt. Aber Du und deinesgleichen, Kreuzritter, ihr seid diejenigen, die gegangen sind. Ihr seid weggelaufen. Ihr habt nichts bekämpft. Ihr habt euch in die Sümpfe verkrochen, um euch zu verstecken. Wir sind zurückgeblieben, um uns um das Problem zu kümmern.“

„Ist das, was Eure Ältesten Euch erzählt haben? Sie haben gelogen.“

Es war, als hätte er sie nicht gehört. Sein Gesichtsausdruck verzerrte sich innerhalb weniger Herzschläge von Wut zu Entsetzen. Er schien in eine Entfernung von tausend Meilen und zwanzig Jahren zu starren. „Warum seid ihr weggelaufen? Warum habt ihr mich verlassen?“ Tränen flossen aus seinen Augen. Seine Stimme schien kindlich zu werden. „Was sie mir angetan haben ... wozu sie mich gezwungen haben ... warum habt ihr nicht geholfen? Habt ihr es gewusst? Habt ihr gewusst, was mich erwartet hat? Sie haben mich zum Hass gezwungen. Sie haben mich mit Hass gefüllt.“ Seine Faust zitterte, bewegte sich aber nicht von Beas Kopf weg.

„Wir haben genug gewusst“, sagte Anajinn sanft. „Das Böse hatte die Grundfeste der Zakarum schon eingenommen. Wir konnten sie nicht retten. Nicht allein. Also haben wir uns auf die Suche nach etwas gemacht, das es konnte.“

„Habt ihr es gefunden?“ Wieder diese Kinderstimme. Hoffnungsvoll.

„Noch nicht“, sagte Anajinn.

„Dann war es umsonst. Alles umsonst.“ Cennis schien kurz davor zu sein, zu schluchzen. Dann verschwand das Kind und der Paladin kehrte zurück. Sein Blick verhärtete sich. „Lege deine Waffe nieder, Kreuzritter. Senke deinen Schild. Lege deine Rüstung ab. Sonst werde ich sie töten.“ Sein Arm legte sich fester um Beas Kehle. Ihre Augen suchten Anajinns und flehten stumm, nicht um ihr Leben, aber um das von Lilsa.

Reyther kroch aus der Gasse, den Kopf drehend, ins Nichts starrend. „Nein“, rief er. „Meine Familie. Gnade. Bitte. Gnade!“

„Tu es, Kreuzritter!“

Anajinn konnte sehen, wie ihr Knappe um die Ecke des Fassbinder-Gebäudes lugte, hinter Cennis. Sie konnte auch sehen, wie sie langsam den Kopf schüttelte. Anajinn atmete aus. Ihr Knappe konnte nichts tun, nicht, während der Paladin in voller Rüstung war und Geiseln festhielt. Jeder Angriff, der stark genug gewesen wäre, um ihn zu töten, würde sie alle töten.

Ein Gefühl des Friedens überkam sie. Sie ließ den Schaft ihres Streitflegels aus ihren Fingern gleiten. Er purzelte zu Boden.

„Ich möchte Euch etwas wissen lassen, Cennis.“ Sie steckte ihren Schild fest in den Sand. Er stand aufrecht. „Ich möchte, dass Ihr Hoffnung habt.“ Ihre Handschuhe fielen als nächstes in den Sand. Dann ihre Brustplatte. Das einfache, gewebte Hemd, das sie darunter trug, war noch immer von Schweiß und Blut getränkt. „Ich habe nicht gefunden, wonach ich gesucht habe. Ebenso wenig wie meine Herrin, oder ihre Herrin vor ihr.“ Ihre Schulterplatten fielen. Dann ihre Beinschützer. „Aber dennoch bereue ich nichts. Jemand wird finden, was wir brauchen. Der Glaube wird geläutert werden. Und was auch immer Ihr mir antut“ – sie schleuderte ihre Stiefel achtlos von sich – „so habe ich doch das Ende meiner Reise noch nicht erreicht. Mein Kreuzzug wird weitergehen.“

Anajinn sah, wie kindliche Hoffnung über Cennis’ Gesicht zuckte. Der Moment war schnell verflogen. Nur kalte Mordlust blieb. Der Paladin streckte seinen rechten Arm aus, und ein leuchtender Hammer sprang ihr entgegen.

Ihre Augen blieben geöffnet, und sie lächelte bis zum letzten Moment.

***

Bea schloss fest die Augen. Einen Moment später erstarb das Geräusch. Der Arm des Mannes glitt von ihrer Kehle.

„Wage es nicht, dich zu bewegen, Weib“, knurrte der Paladin in ihr Ohr. Sie nickte, aber er war bereits auf Anajinn zugegangen.

Jedenfalls auf das, was von ihr übrig war. Bea drückte Lilsa an sich und hinderte sie daran, ihren Kopf zu wenden und den Anblick zu erleben. Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Sieht für mich aus wie das Ende deiner Reise“, feixte der Paladin. Er trat nach der Brustplatte des Kreuzritters. „Sieht aus, als wäre deine Suche beendet.“

„Das ist sie nicht.“

Bea und der Paladin wandten sich gleichzeitig zu der Stimme um. Der Knappe stand mit erhobenem Schwert da. Mit einem Brüllen schleuderte der Paladin einen Hammer auf sie.

Es gab einen enormen Aufprall von Lärm und Raserei, und eine riesige, wogende Feuerwolke flammte dort auf, wo noch einen Moment zuvor das Mädchen gestanden hatte. Der Knappe des Kreuzritters selbst war spurlos verschwunden.

Einen winzigen Augenblick lang.

Licht fuhr von oben herab. Der Knappe ging mit ihm nieder. Der Paladin sah es kommen, und ein kindlicher Ausdruck der Erleichterung huschte über sein Gesicht.

Und dann war es vorbei.

Das Mädchen kniete sich neben ihre Herrin und flüsterte etwas. Bea konnte es nicht hören. Aber die Lichtschimmer, die in den Sand fielen, ließen keine Zweifel. Tränen.

Das Mädchen stand auf. Sie ergriff Anajinns Schild.

„Bea?“ krächzte Reyther. „Bea? Bist du verletzt?“

Bea lief zu ihm hinüber. „Mir geht es gut. Lilsa geht es gut.“

„Anajinn?“ Seine Stimme zitterte. „Ist sie —?“

„Ich bin hier“, sagte der Knappe. Bea sah sie verwirrt an.

Reyther neigte den Kopf. „A-Anajinn? Seid Ihr das?“

„Ja“, sagte der Knappe. Sie legte den Rest der Kreuzritterrüstung an und trat zu dem erblindeten Mann hinüber. Vorsichtig legte sie eine Hand auf seine Stirn und öffnete Anajinns Buch der Gesetze. Leise begann sie, eine andere Passage zu rezitieren. Reyther blinzelte mehrmals. Sein Kopf drehte sich hin und her. Seine Augen waren nicht mehr nur weiß. Seine wiederhergestellten Pupillen huschten umher. Der Knappe seufzte. „Das ist alles, was ich tun kann. Geht es Euch gut?“

Reyther sah Bea direkt an. „Ich kann ... es ist nicht ... Es ist verschwommen“, sagte er und kniff die Augen zusammen. Er sah das Mädchen an. „Danke, Anajinn.“ In seiner Stimme lag noch immer Unsicherheit. Bea erkannte, dass er wohl die Form ihrer Rüstung sehen konnte, aber nicht viel mehr. „Ihr klingt so anders.“

„Vermutlich“, sagte sie.

Das Ende ihrer Reise

Kreuzritter

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